Die Kempenjule
In den Ruinen der Kempe bei Mahlitzsch verbirgt sich ein Edelfräulein als Schlange verzaubert. Das Volk nennt sie die Kempenjule. Ihr Vater, ein reicher Rittersmann, hatte einst einer bettelnden Zigeunerin die Gabe verweigert und sie davon getrieben. Aus Rache verwandelte diese seine schönste Tochter in eine hässliche Schlange. Alle 100 Jahre - nur wenn ein vollendetes Jahrhundert dem beginnenden seine Hand zum Gruße reicht, ist es ihr vergönnt, menschliche Gestalt anzunehmen, um einen jungen Mann zu bitten, sie von ihrem Zauber zu erlösen.
Wieder einmal war diese Zeit gekommen Der junge Dorfschneider saß mit untergeschlagenen Beinen auf seiner Schneiderbank. Die fleißigen Hände ruhten und er träumte in den blauen Winterhimmel hinaus, wie er den Abend mit seinen Freunden im nahen Schweizerhaus fröhlich sein und den Jahresanfang feiern wollte. Plötzlich stand ein wunderschönes Fräulein in altertümlicher Kleidung vor ihm und er hatte doch kein Klopfen gehört und nicht gesehen, wie sich die Tür geöffnet hatte. Als er erschrocken aufspringen wollte, sprach das liebliche Wesen:
„Bleibt sitzen Meister und hört mich an. Ich bin die Kempenjule und gekommen, euch zu bellen, mich aus meinem Banne zu erlösen. Wenn ihr mir helfen wollt, dann geht um Mitternacht zur Kempe und küsst mich, gleichviel in welcher Gestalt ich euch erscheine. Es wird ein großes Glück werden. Aber ihr müsst gegen jedermann schweigen und dürft keinen Laut von euch geben, sonst muss ich mich wieder 100 Jahre verbergen."
Ehe der junge Meister antworten konnte, war die Erscheinung verschwunden. Verwundert rieb er sich die Augen und glaubte, geträumt zu haben Er sann den ganzen Nachmittag darüber nach. Als er am Abend unter seinen Freunden saß, war er nicht so fröhlich, wie es sonst seine Art war. Mitternacht rückte näher und obwohl er sich sagte, dass er einer Sinnestäuschung nachgehen würde, ließ es ihm keine Ruhe. Eine Viertelstunde bevor die Uhrzeiger sich deckten, schlich er davon und eilte zur Ruine. Klopfenden Herzens stand er vor dem Gemäuer. Vom Kirchturm im nahen Striegis tönten 12 Glockenschläge durch die stille Nacht. Da raschelte es im dürren Laub. Eine Schlange ringelte sich an seinem Leib empor. Ein Schauer schüttelte seinen Körper. Jetzt war der Kopf der Schlange dicht an seinen Lippen. Die dunklen Augen sahen ihn bittend an. Schon wollte er die kalten Lippen küssen, da züngelte die gespaltene Zunge hervor. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Sofort fiel die glatte Natter herab und verschwand im Mauerwerk. Ein furchtbarer Sturm brauste durch die dürren Zweige, dass sie rasselnd aneinanderschlugen. Dichte Wolken hatten den Himmel überzogen. Heftige Schneegestöber fegte heran. Frierend eilte der Meister in sein Heim. Zitternd und klappernd vor Frost und Schreck lag er die ganze Nacht in seinem Bett.
Am anderen Morgen stand ein anderer Mensch auf. Sein froher Sinn war verschwunden. Kein frohes Lied klang mehr aus seiner Kehle Die Freunde mied er. Eine Frau hat er sich nie ins Haus geholt. Still und nachdenklich verrichtete er seine Arbeit. Inzwischen ist er gestorben. Erst auf dem Krankenlager erzählte er sein jugendliches Erlebnis.
nach Grässe "Sagenschatz des Königreichs Sachsen"
G.Schönbergs Verlagsbuchhandlung - Dresden Ersterscheinung: 1854