Kriegsende 1945

Der Autor unserer beliebten „Entdeckungen im tausendjährigen Döbeln“, Gerhard Heruth, erzählt hier, wie er als Kind das Kriegsende 1945 in Döbeln erlebt hat:




Wie ich Döbelner wurde

Eisiger Abschied von der Heimat und heißer Empfang im neuen Zuhause!




Jeder Ort kann bedeutsame Geschehnisse aus seiner Geschichte aufweisen, die die Nachwelt dann aus Chroniken erfährt. Mitte des vorigen Jahrhunderts, im Mai 1945, endete der furchtbare 2. Weltkrieg, der unsagbares Leid für Millionen Menschen brachte sowie Tod und Zerstörung hinterließ. Seitdem sind 65 Jahre vergangen und es lebt noch ein Teil jener Generation aus dieser Schreckenszeit, die die Ereignisse bewusst in ihren Erinnerungen bewahrt. Naturgemäß wird nach solch langer Zeit die Zahl der verbleibenden Zeitzeugen immer kleiner.

Deshalb soll heute von einem Ereignis in Döbeln berichtet werden, welches ich als Zeitzeuge erlebt habe. In den bisherigen Artikeln über das tausendjährige Döbeln mag bei vielen Lesern wohl der Gedanke aufgekommen sein, dass ein in Döbeln Geborener aus der Geschichte seiner Stadt erzählt. Doch dem ist nicht so!


Osterode (heute Ostroda) am Drewenzsee Foto: G. Heruth



Meine Wiege stand 1934 über 550 Kilometer von Döbeln entfernt in der Stadt Osterode am Drewenzsee im ostpreußischen Oberland, einem Gebiet in Ostpreußen, das als östliche Nachbarn die herrlichen Masuren mit dunklen Wäldern und kristallenen Seen, bis heute Markenzeichen dieser Region, hat. Die Landschaft Ostpreußens gehört heute als Tribut für deutsche Kriegslust zu Polen.

Im Alter von fünf Jahren brachte der in der Heimat allgegenwärtige Storch, damals glaubte ich noch fest daran, mir eine Schwester und unsere Familie war komplett. Wir lebten an einer Schleuse der Stadt am Oberländischen Kanal, wo man nach 65 Kilometern Schifffahrt über Kanäle und viele Seen unweit der Stadt Elbing die Ostsee erreichen konnte. Zum Bauernhof der Eltern meines Vaters, der 1941 in den Krieg ziehen musste, waren es nur sieben Kilometer Wasserweg. Umgeben von einzigartiger Natur erlebte ich etwas mehr als zehn unbeschwerte und wunderschöne Kindheitsjahre bis zum Januar 1945, da man als Kind den Krieg nicht so wahrnahm.


Schleuse in Osterode Foto: G. Heruth



Dann klopfte die rote Armee, die schon seit Wochen die Ostgrenze Deutschlands überrannt hatte, unüberhörbar an die Kreisgrenze Osterodes. Die bisher eisern verbotene Flucht aus der Stadt, die - viel eher erlaubt - so vieles Leid erspart hätte, brachte nun Furcht und Schrecken über die Menschen. Am Sonnabend, dem 20. Januar 1945, hieß es: Flucht zu Fuß in Richtung Nordwesten, der Russe ist in ein paar Stunden da! Was dies bei hohem Neuschnee und starkem Frost für die zur Flucht gezwungenen Menschen bedeutete, lässt sich wohl erahnen! Gerade noch rechtzeitig wurde wenige Kilometer außerhalb der Stadt der Elendsmarsch gestoppt. In dem heillosen Chaos hatte man die falsche Fluchtrichtung befohlen! Auf dem Rückweg in die Stadt sahen wir mit Entsetzen, was und wer schon „auf der Strecke geblieben war“!

Nach einer bangen Nacht, einer Gnadenfrist unter vertrautem Dach daheim, ging es am Sonntag richtig los. Mutter erkämpfte für uns drei und unsere mitgeschleppten Habseligkeiten ein Plätzchen auf einem Wehrmacht-LKW. Nur eine kleine Anzahl Osteroder bekam diese Möglichkeit zur Flucht und dieser Glücksfall brachte uns fünfzig Kilometer weiter in die Stadt Marienburg.

Doch es bedurfte noch viel mehr Glück! Als der letzte Güterzug in den Bahnhof der Kreuzritterstadt einfuhr, brachen alle Dämme der bisher aufrecht erhaltenen Ordnung. Wie bei einem Schiffsuntergang wurden die Boote, hier die Waggons, gestürmt, ohne Rücksicht auf Andere. Jeder wollte einen rettenden Platz erringen und es waren zu viele Menschen für so wenig Platz. Wie das damals unsere Mutter mit uns beiden geschafft hat, ist mir zeitlebens ein Rätsel geblieben. Unterbrochen von langen Standzeiten, notdürftig mit Decken und Stroh vor der Kälte geschützt, bereiteten der aufziehende Hunger und der lähmende Durst unendliche Qualen. Die mehrere Tage andauernde Zugfahrt brachte vielfachen Tod.

Ende Januar erreichten wir die Stadt Wittenberge an der Elbe. vorerst die Endstation der Reise nach dem Westen. Bei einer einheimischen Familie bekamen wir unser Flüchtlingsquartier zugewiesen. Für drei Menschen ein kleines Stübchen. Erst einmal gerettet, so unser Wunsch. Aber Wittenberge lag unter der Einflugschneise der Bomberpulks in Richtung Berlin, was täglich mehrfachen Fliegeralarm bedeutete. Eines Tages befand sich unser dortiges Wohngebiet, in der Nähe eines großen Güterbahnhofes gelegen, im Fadenkreuz der Bomberpiloten. Die benachbarten Häuser der Straße erhielten mehrere Bombentreffer und fielen zu Schutthaufen in sich zusammen. Es gab auch Menschenopfer.

Aber wir hatten wieder Glück im Unglück, denn unsere Bleibe war bis auf Putz- und Dachschäden heil geblieben. Kurze Zeit vorher hatte unsere Mutter über das Rote Kreuz Nachricht von ihrer Schwester Henny Friedrich erhalten, die aus Neustettin in Pommern geflüchtet war. Deren Reise hatte bei einem Anverwandten namens Franz Friedrich geendet, der in der Stadt Döbeln am Flusse der Freiberger Mulde Friedhofswärter des dortigen Oberfriedhofes war. Tante Henny schrieb uns, dass es in Döbeln wie im Frieden wäre und wir doch hierher kommen sollten. Da uns auch eine Unterkunft geboten wurde, folgten wir ihrem Rat.


Friedhofswärterhaus heute Foto: G. Heruth



Am Freitag, dem 16. März 1945, kamen wir nach einer abenteuerlichen Zugfahrt in Döbeln an. Onkel Franz wohnte im Friedhofswärterhaus der Dresdner Straße 30a und besaß noch, von diesem stadteinwärts durch eine Gartenanlage getrennt, das private Haus Dresdner Straße 29a. Dort erhielten wir Quartier, ohne zu ahnen, dass es nur für eine Nacht sein sollte. Tags darauf, wir hielten uns im Friedhofswärterhaus auf, gab es gegen Mittag Fliegeralarm, was zu jener Zeit aus Sicherheitsgründen auch in Döbeln zum Alltag gehörte.

Unser Onkel Franz hatte dafür am hinteren Ende des Geräteschuppens, welcher in seinem Garten mit Hanglage stand, einen Stollen gegraben und mit Balken und alten Grabsteinen zu einem kleinen Schutzbunker umgerüstet. Dort nahmen wir bei besagtem Alarm Platz und harrten der kommenden Dinge. Bald hörten wir das Brummen von Flugzeugmotoren, ein Klang, der uns mit Schrecken an Wittenberge erinnerte. Darauf folgte eine laute Detonation, kratzender Ziegelstaub und Pulverqualm reizten Hals und Nasen. Wir glaubten nun, vom Regen in die Traufe geraten zu sein. Sollte der schützende Hohlraum zu unserer Gruft werden? Aber bald trat wieder Ruhe ein und der Spuk war vorbei. Die Sirenen der Stadt heulten zur Entwarnung und als wir ins Freie hinaustraten sahen wir, dass das Haus Dresdner Straße 29a zur Hälfte ein Trümmerhaufen war. Die freie Sicht ließ uns in die mauerlosen Wohnungen blicken.


Das durch Bombenabwurf zerstörte Haus in der Dresdner Straße 29a, Foto aus „Chronik 2000 - Döbeln“



Am 17. März 1945 ahnten wir noch nicht, dass diese Einmaligkeit das Ende des Bombenkrieges für Döbeln bedeutete. Und alles, Gott sei Dank, ohne Personenschaden. Nur ein Haus in der Oschatzer Straße erhielt noch einen Bombentreffer, und der war auch noch ein Blindgänger! Seitdem wohnten wir nun im Friedhofswärterhaus bei Onkel Franz, wo etwas enger zusammengerückt wurde.

Am Sonntag, dem 6. Mai 1945, war dann auch in Döbeln der Krieg zu Ende. Zum ersten Male standen wir Soldaten der Roten Armee leibhaftig gegenüber, vor denen wir im Januar in Ostpreußen geflohen waren. Ihr „Besuch“ im Friedhofswärterhaus, wahrscheinlich bedingt durch die Nähe der Grabfelder, verlief friedlich und wir waren einiger Maßen erleichtert. Dies im doppelten Sinne, denn nur einige wenige Uhren und ein paar Schmuckstücke wechselten ihren Besitzer, was damals ein guter Tausch war.

Ende Mai ließ der Bürgermeister Döbelns per Befehl verlauten, dass alle Flüchtlinge kurzfristig die Stadt verlassen müssten und in ihre Heimatorte zurückkehren sollten. Über die Art und Weise der Rückreise verlor man kein Wort und wer der Aufforderung nicht folgen würde, sollte keine Lebensmittelmarken erhalten. Da von solchen Papierstücken in jener Zeit das Leben abhing, blieb uns keine andere Wahl. Außerdem war der Drang zur Heimkehr in die Heimat allgegenwärtig und stark ausgeprägt, wenn auch keiner wusste, geschuldet der desolaten Nachrichtenlage aus der alten Heimat, was ihn im Osten erwartete.


Rechts der Osteroder Schleuse - dieses Haus hat das Jahr 1945 überdauert, Foto: G. Heruth



Erst viel später erfuhren wir aus Osterode, dass dort sechzig Prozent der Stadt der Brandlegung zum Opfer gefallen waren. Die Häuser an der Schleuse gab es nicht mehr. Da wir das jedoch nicht wussten, packten wir unser kärglich Hab und Gut zusammen, luden es auf einen Handwagen und reihten uns in den Zug der Ausgewiesenen in Richtung Osten - „nach Hause“ - ein!

Nach tagelangen ermüdenden Fußmärschen, großen Strapazen und schrecklichen Begegnungen unterwegs, endete unser sinnloses Unternehmen an der Neiße. Hier wurde unwiderruflich erklärt, es gäbe für uns keine Heimkehr mehr und wir sollten wieder umdrehen. Enttäuscht, mit deutlich weniger Besitz, aber umso reicher an bitterer Erfahrung kamen wir erneut in Döbeln an. Hier erfuhren wir dann zu unserer weiteren Verbitterung, dass der unmenschlichen Anordnung der Stadtoberen schon kurze Zeit nach unserer Abreise aus Döbeln der Widerruf folgte. Für uns war das zu spät gewesen!

Im Oktober 1945 kam dann die Verfügung der Sowjetischen Militäradministration, dass wir - nun „Umsiedler“ genannt - im Stadtgebiet von Döbeln einzubürgern wären und Wohnrecht erhielten, wenn wir vor dem 1. Oktober 1945 in Döbeln angekommen waren. Da wir wenigstens diese Voraussetzung zur weiteren Existenz in Döbeln erfüllten, wurden wir mit diesem Datum und sind es bis heute geblieben „Döbelner“. Unser Glück blieb uns treu, zwei Jahre später fand unser Vater, 1947 aus Kriegsgefangenschaft kommend, zu uns nach Döbeln, und die Familie war wieder vereint.


Dresdner Straße heute - wieder aufgebaut Foto: G. Heruth



Inzwischen sind 65 Jahre vergangen. Vieles ist im Kleinen wie Großem geschehen. Aber bei allen Veränderungen, die eine so lange Zeit naturgemäß mit sich bringt, wenn in Stunden der Ruhe und Besinnung die Gedanken in das Reich der Erinnerung schweifen, dann tauchen Bilder aus der alten Heimat auf, an jenen Ort, wo alles seinen Anfang nahm, wo meine Wiege stand.

Aber in dem Sinnen findet auch wieder das große Gefühl der Dankbarkeit einen Platz. Die Dankbarkeit und Liebe zu der Stadt, die mir und den Meinen vor über sechs Jahrzehnten ein neues Zuhause gab und ein Leben in Glück und Frieden bescherte. Und heute, da ich noch als Einziger meiner Familie in Döbeln am Leben bin, sind diese Gedanken wacher als zuvor!

Gerhard Heruth
"Traditions- und Förderverein Lessing-Gymnasium Döbeln" e.V.
Mitgliederinformation Nr. 38
Mai 2010


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