Jüdischen Familien
Zum Beispiel die Kinder der Familie Glasberg...
Das Schicksal der ehemaligen Schüler Max, Karl und Ruth Glasberg nach ihrer Relegation vom Staatsrealgymnasium 1938
Relegation vom Döbelner Staatsrealgymnasium
In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts lebten in Döbeln nur wenige jüdische Familien. Oft waren sie aus dem Osten nach Deutschland eingewandert, viele gehörten zum Mittelstand. Die Kinder der jüdischen Familie Glasberg waren zeitig Vollwaisen geworden, 1929 starb der Vater, 1934 die Mutter – Max war zu diesem Zeitpunkt 14, Karl 12 und Ruth 10 Jahre alt. Die jüdische Familie Gutherz übernahm gemeinsam mit der Tante Marie Rothstein die Pflegschaft über die Kinder.
Dr. Helene Gutherz wollte 1936 die Denunziation ihrer Patienten nicht mehr hinnehmen, die angefeindet wurden, nur weil sie sich von einer jüdischen Ärztin behandeln ließen. Gemeinsam mit ihrem Mann zog sie nach Berlin, hoffte, dass sie die Anonymität der Großstadt vor der Ausgrenzung durch die Nationalsozialisten schützt. Karl und Ruth Glasberg folgten ihren Pflegeeltern nicht nach Berlin, weil sie am Staatsrealgymnasium Döbeln noch ihr Abitur ablegen wollten. Bisher blieben sie hier von Anfeindungen weitestgehend verschont. Nur einzelne Lehrer thematisierten ihre jüdische Herkunft. Der Rektor, Oberstudiendirektor Prof. Dr. Roedel, war kein Eiferer. Er versuchte nach Kräften die nationalsozialistische Vereinnahmung der Schule zu bremsen. Bei seiner Verabschiedung in den Ruhestand 1938 wird sein „tiefes Verständnis für die Jugend“ gelobt. Er wäre ein „väterlicher Freund“ gewesen, dessen Handeln oft von „großer Milde“ geprägt gewesen sei. Auch wenn als Grund für seine vorzeitige Pensionierung die Behebung der „Junglehrernot“ genannt wird, ahnt man, dass Dr. Roedel für die Umsetzung einer straffen nationalsozialistischen Schulpolitik eher ungeeignet gewesen ist.
Sein Nachfolger Gottfried Klemm ist SA-Obersturmbannführer und verfolgt das Ziel die nationalsozialistische Ideologie stärker als bisher zur Richtschnur für die Leitung des Gymnasiums zu machen. Die Politisierung der Schule schreitet voran.
Sofort hatte der neue Rektor verfügt, dass die beiden jüdischen Schüler Karl und Ruth Glasberg isoliert in der ersten Reihe ihrer Klasse sitzen sollen. Es wäre deutschen Kindern nicht zuzumuten, dass sie neben Juden sitzen müssen. Schon durch sein Äußeres -er kommt meist in Uniform zum Dienst- macht er deutlich, dass er konsequent den Geist des Nationalsozialismus durchsetzen will. Am 21.05.1938 lässt er Karl und Ruth Glasberg aus dem Unterricht holen. Er teilt beiden mit, dass sie mit sofortiger Wirkung aus der Schule ausgeschlossen werden. Jüdische Schüler würden nicht länger geduldet.
Erst am 15.11.1938 wird im Deutschen Reich offiziell verfügt, dass jüdische Schüler keine öffentlichen Schulen mehr besuchen dürfen. Hieran wird deutlich, dass zahlreiche antijüdische Maßnahmen im vorauseilenden Gehorsam getroffen wurden. Gottfried Klemm wollte sich als neuer Rektor etablieren. Die Relegation der beiden letzten jüdischen Schüler schien ihm ein probates Mittel. Für Max und Ruth Glasberg brach an diesem Tag eine Welt zusammen. Als sie in entwürdigender Form vom Gymnasium vertrieben werden, schwindet auch der letzte Grund, die Kinder weiterhin in Döbeln wohnen zu lassen. Sie ziehen 1938 zu ihren Pflegeeltern nach Berlin.
Max Glasberg – der Traum vom eigenen jüdischen Staat
Max Glasberg verlässt schon Ostern 1936 das Staatsrealgymnasium Döbeln. Im Hauptbuch der Schule ist ausgewiesen, dass er eine Ausbildung zum Dentisten beginnen würde. Viele Monate besuchte er Nachmittagskurse, um sich Grundlagen in diesem Beruf anzueignen. Wir können davon ausgehen, dass er diese Ausbildung forcierte, um im Falle einer Auswanderung die Grundlage für eine berufliche Tätigkeit zu haben. Vielleicht hängt die Entscheidung, die Schule in Döbeln vorzeitig zu beenden, schon mit der Einsicht zusammen, dass sich schon bald die Notwendigkeit der Auswanderung ergeben könnte. Die Hochschulreife nützt in einer solchen Situation wenig, eine abgeschlossene Berufsausbildung versetzt dagegen in die Lage, den Broterwerb sicherstellen zu können. Und ein tüchtiger Zahntechniker wird in Deutschland genauso gebraucht wie in England, den Vereinigten Staaten oder in Palästina.
Dass sich Max Glasberg eine Auswanderung nach Palästina vorstellen konnte, zeigt sich an einem Foto aus dem Album der Familie. Es ist ein Foto Max Glasbergs aus einem Mitgliedsausweis für den staatszionistischen Jugendbund „Jüdisch-nationale Jugend Herzlia (Betar)“. Bei entsprechender Vergrößerung kann man auf dem Foto noch Teile des Stempelaufdrucks lesen (ERZ – Herzlia und darunter in Klammern Betar). Diese zionistische Organisation wurde 1923 in Riga durch Ze'ev Jabotinsky gegründet und setzte sich für die Errichtung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina ein. In Berlin war die Herzlia-Jugend ca. 500 Mitglieder stark. „Die Erziehung bei internen Veranstaltungen ist bewusst soldatisch. Mit staatlicher Genehmigung tragen die Mitglieder dunkelbraune Hemden bzw. Blusen mit blauem Kragen, Ärmelaufschlägen und Achselklappen.“ (1) Das Schwarz-Weiß-Foto von Max Glasberg lässt eine solche farbliche Gestaltung erahnen. Die gemeinsame Uniform sollte den Jugendlichen neues Selbstbewusstsein geben und den Zusammenhalt stärken. Die jungen Juden sollten nicht in einer Opferrolle verharren, sondern dem Antisemitismus in Deutschland mutig etwas entgegensetzen. Die Idee, in Palästina einen eigenen jüdischen Staat aufzubauen, gab den jungen Männern Halt und Hoffnung.
Schlimmste Befürchtungen bestätigen sich als die Familie erfährt, dass er von Leipzig aus direkt ins KZ Sachsenhausen verbracht worden ist. Hier wurde er mit der Häftlingsnummer 9819 erfasst. Nach wenigen Monaten erhält die Familie die Nachricht, dass Max Glasberg am 07.03.1940 um 15.30 Uhr in der Haft verstorben ist. Frau Dr. Gutherz kämpft darum, dass sie die Leiche des Jungen vor der Einäscherung noch einmal sehen darf. Das hat man nicht gern, aber man kann es ihr nicht verwehren. Helene Gutherz fährt nach Sachsenhausen und kommt erschüttert von dort zurück. Noch nie, so sagt sie, habe sie eine derart abgemagerte Leiche gesehen. Als Todesursache wurde Brustfellentzündung angegeben. Die Asche des Ermordeten wird der Familie wenige Tage später per Nachnahme zugeschickt. Sie wird auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Leipzig beigesetzt. Max findet seine letzte Ruhestätte neben seinen Eltern.
Als Deutschland am 01.09.1939 Polen überfiel und damit den II. Weltkrieg begann, mussten sich alle Polen polizeilich melden. Weil die Kinder der Glasbergs noch die polnische Staatsbürgerschaft ihrer Eltern besaßen, schickte David Gutherz sie in die Provinz nach Döbeln. Er glaubte, dass bei der Tante Marie Rothstein niemand nach ihnen suchen würde, weil sie dort ja nicht mehr gemeldet waren. Doch dieser Plan geht nicht auf. Ruth erinnert sich: „Als mein Bruder Max sich auf dem Weg zwischen unseren beiden Häusern befand, wurde er von einem Polizisten erkannt und von der Straße weg verhaftet.“ (2)
Karl Glasberg – Tod mit 21 Jahren in Auschwitz
Die Pflegeeltern Gutherz forcieren die fremdsprachliche Ausbildung der ihnen anvertrauten Kinder. Falls sie doch ins Ausland müssen, sollen es die Kinder möglichst leicht haben. Doch Karl ist eher technisch interessiert, Sprachen liegen ihm weniger. Die Freude ist bei ihm groß, als er die Sprachenschule aufgeben darf und als Praktikant in einem Forschungsinstitut für Fernsehtechnik arbeiten kann. Denes von Mihály, ein ungarischer Physiker und Techniker, hatte schon 1923 in Berlin-Wilmersdorf die „Telehor AG“ gegründet. Er gilt als Entwickler des mechanischen Fernsehens, erfand hier in der Berliner Hildegardstraße 3 das „Filmgrammophon“. In Zusammenarbeit mit der Reichspost brachte von Mihály den Apparat als „Telehor Volksfernsehempfänger“ auf den Markt. Doch die miserable Bildqualität und die fehlende Tonübertragung überzeugten die Kunden noch nicht. Dennoch hatte das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda weiterhin großes Interesse an der Fernsehtechnik und damit auch an der Arbeit des Laboratoriums. Dieses Interesse und das Engagement von Mihálys retten Karl das Leben. Als er wie sein Bruder Max ins KZ Sachsenhausen verschleppt wird, rettet ihn die Fürsprache seines Chefs.
Später, im Jahr 1941, wurde die jüdische Bevölkerung in Deutschland nochmals gezählt. Im „Altreich“ lebten noch 167 245 Juden, davon ca. die Hälfte in Berlin. Immer rigider ging man gegen die Juden vor. In Berlin wird die Lage für Karl Glasberg immer verzweifelter. Seine letzte Hoffnung bestand darin, dass ihm noch die Ausreise gelingen könnte. Am 24.03.1942 teilt die „Jüdische Kultusvereinigung zu Berlin e.V.“ aber mit, dass er von der Auswanderung zurückgestellt wurde. Die Enttäuschung ist groß. Er weiß noch nicht, dass diese Verzögerung sein Schicksal besiegelt.
Nur wenige Wochen vor dieser Mittteilung hatten sich am 20.01.1942 im Gästehaus der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes „Am Großen Wannsee 56–58“ in Berlin 15 hochrangige Vertreter von nationalsozialistischen Reichsbehörden und Parteidienststellen getroffen. Unter dem Vorsitz von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich begann man den Holocaust im Detail zu organisieren und die Zusammenarbeit aller Instanzen dabei sicherzustellen.
Karl Glasberg wird im Februar 1943 verhaftet. Im Gefängnis von Berlin-Moabit erhält er die Häftlingsnummer 6185. Als Haftgrund gibt man „Paßvergehen“ an. Sein polnischer Pass ist aber nur der Vorwand, hauptsächlich sieht man in ihm den Juden.
Als Berufsbezeichnung hat er „Elektriker“ angegeben, was nicht der Wahrheit entsprach. Manchmal half ein Handwerksberuf und man wurde einem Arbeitskommando zugeteilt. Nicht wenige entkamen so der Deportation. Bis zum Schluss hat er versucht, aus jeder Situation das Beste herauszuholen. Eine Eigenschaft, die seine Schwester Ruth noch 56 Jahre nach seinem Tod bewundert.
Karl hatte in Moabit kein Glück. Am 28.06.1943 wird er mit dem 39. „Osttransport“ von Berlin nach Auschwitz deportiert. 346 jüdische Menschen verließen mit diesem Zug ihre Heimat. 117 Männer und 93 Frauen werden in Auschwitz als Häftlinge registriert, 136 Menschen werden sofort nach der Ankunft getötet. Auch Karl Glasberg ist in Auschwitz nicht registriert, auch er wurde wahrscheinlich sofort in den Gaskammern ermordet. Karl war 21 Jahre alt.
„Rettet die Kinder!“ – „Rettet Ruth Glasberg!“
Ruth Glasberg wird 1938 in der jüdischen Privatschule „Dr. Leonore Goldschmidt“ in Berlin-Grunewald aufgenommen. Hier lernen zu dieser Zeit 520 Schülerinnen und Schüler, die von 40 Lehrern unterrichtet werden. Die Schule „erhielt 1936 die offizielle Abiturlizenz und konnte 1937 den Status eines Examination Centre of the University of Cambridge erlangen. Der bilinguale Schulabschluss ermöglichte den Schülern den Zugang zu den englischsprachigen Universitäten in Europa und Nordamerika und erleichterte ihnen damit die Emigration.“ (3)
Für Ruth Glasberg ist es eine Zeit voller Hoffnung. Sie wird von ihren Mitschülern scherzhaft wegen ihres sächsischen Dialekts „Saxophon“ genannt. Nach den traumatischen Erfahrungen in Döbeln findet sie hier einen Ort, an dem sie in Ruhe lernen kann. Alles scheint wieder möglich, das Leben geht weiter. Dennoch denkt sie sehr oft an die Zukunft. Sie besucht einen Nachmittagskurs für Schneiderinnen. Falls sich doch eine Auswanderung als notwendig erweisen sollte, will sie gewappnet sein. In der Vorstellung von Ruth Glasberg ist das das Allerschlimmste, was passieren kann. Im Moment ist sie gerade 14 Jahre und es ist Sommer in Berlin.
Lange kann Ruth die Goldschmidt-Schule nicht besuchen. Sie wird am 30.09.1939 geschlossen, ein Zeichen dafür, dass das jüdische Leben in seiner Gesamtheit ausgetrocknet werden sollte. Die Verhaftung der beiden Brüder und letztlich die Ermordung von Max Glasberg ließen keinen Zweifel daran, dass das Leben aller Juden in Deutschland akut gefährdet ist. Der Krieg radikalisiert die Stimmung im Land, der Antisemit Hitler stand unangefochten an der Spitze eines Staates. An seinem Hass gegenüber den Juden ließ er keinen Zweifel.
Den Gutherzens wird in diesen Tagen immer deutlicher, dass sie die Sicherheit der ihnen anvertrauten Kinder nicht mehr gewährleisten können. Besonders um Ruth Glasberg machen sie sich Sorgen. Die Familie verschafft der damals 15-jährigen mit Hilfe der jüdischen Gemeinde ein Visum nach Schweden. Am 06.03.1940 wird sie aus Deutschland herausgebracht. Sie fliegt ab Berlin-Tempelhof über Kopenhagen nach Stockholm. Mitnehmen durfte sie nur wenige persönliche Sachen wie Kleider, Schuhe, Strümpfe, Wäsche und 200 Gramm Silber. Der „Kindertransport“ gilt als eine der größten Rettungsaktionen während der Zeit des Nationalsozialismus. Durch diese Aktion entkamen mehr als 10 000 jüdische Kinder aus Deutschland.
In Schweden angekommen, wurde die 15jährige einer Familie zugewiesen, in der die Frau geisteskrank war. Da dies die Eingewöhnung sehr erschwerte, bat sie die Hilfsorganisation um erneute Vermittlung. Dies geschah dann auch. Es war ihr jedoch nicht möglich die Schulausbildung fortzusetzen. Somit musste ihr großer Traum, ein Studium zu beginnen, beerdigt werden. Aufgrund der Bestimmung der schwedischen Regierung über Arbeitsgenehmigungen für Ausländer musste sie sich für einen Beruf entscheiden. Sie konnte wählen, ob sie Haushälterin, Friseuse oder Näherin werden möchte. Weil sie in Berlin schon Schneiderkurse belegt hatte, entschied sie sich für Letzteres.
Ruth Glasberg fühlte sich lange Zeit in Schweden nicht wohl, sie hatte sich ihr Leben ganz anders vorgestellt. Ihr fehlte die deutsche Sprache, die Großstadt Berlin, ihr fehlen die Gespräche mit den Pflegeeltern, die Besuche bei Tante Marie in Döbeln.
Die Odyssee Ruth Glasbergs - neue Heimat Schweden
Ruths Auswanderung nach Schweden hat ihr das Leben gerettet. Hier erlebt sie das Kriegsende und bemüht sich sofort nach Deutschland zurückzukehren. Das stellte sich als ungeheuer schwierig heraus. Verzweifelt sitzt Ruth Glasberg in Schweden fest, lebt in bescheidensten Verhältnissen. Endlich erhält sie Post aus Berlin. Ihre Tante Marie Glasberg meldet sich. Sie hat schreckliche Neuigkeiten. Ruth Glasberg erfährt, dass ihr Bruder Karl und ihre Pflegeeltern nicht mehr am Leben sind. Am 16.06.1946 schreibt sie ihrer Tante aus Stockholm: „Natürlich habe ich mich gefreut, einen Brief von dir zu bekommen, aber der Inhalt ist so furchtbar, so entsetzlich, dass ich nicht weiß, was ich sagen oder womit ich dich trösten soll. Du weißt und ich weiß es auch, dass es für uns keinen Trost gibt. Zwar lebt man weiter, aber ob man wirklich lebt, weiß man nicht. Weinen kann ich nicht mehr, die Tränen sind eingetrocknet und geblieben ist eine unsagbare Härte.“ (4) Große Selbstzweifel belasten die junge Frau. Sie schreibt ihrer Tante: „Mich hat Hitler nicht getötet, auf mir liegt eine Schuld, die so schwer ist, warum habe ich euch verlassen, warum habe ich in Sicherheit gelebt, wo ihr alle dagegen täglich den Revolvern der Gestapo ausgesetzt gewesen seid.“ Die Einsamkeit in Schweden scheint für Ruth Glasberg unerträglich zu sein. Sie ist so verzweifelt, dass sie sich wünscht, sie hätte das Schicksal ihrer Familie teilen können, „denn wie ich hier ganz alleine lebe, ist es ein sehr schmerzhafter, quälender und langsamer Selbstmord.“ Immer wieder stellt sie sich vor, wie es wäre, wenn sie wieder in Deutschland sein könnte. Immerhin lebt sie schon sechs Jahre in Schweden. Am 29.07.1946 schreibt sie ihrer Tante: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie das sein wird, nach Döbeln zu kommen. Mir ist solche Angst davor. Nein, Angst darf man nicht haben, das nützt nichts.“
Ihr ganzes Leben in Schweden hat nur noch ein Ziel - die Ausreise. So schnell wie möglich will sie zu ihrer Tante nach Berlin. Sie ist er einzige Mensch, der sie wirklich verstehen kann, sie ist die einzige Verbindung zu ihrem alten Leben.
Sie gibt in Schweden ihre Arbeit auf und schreibt der Tante am 02.08.1946, wie sie all die Jahre hier gelebt hat: „Ich war froh, arbeiten zu können, viel Arbeit zu haben, da brauchte ich zumindestens an nichts zu denken. Wenn ich dann nach Hause kam, war ich so müde, dass ich gleich in den Schlaf gefallen bin. Ja, so ungefähr sah mein Leben diese 6 Jahre in Schweden aus.“
Im Herbst des Jahres 1946 gelingt ihr die Ausreise. Ihr nächster Aufenthaltsort ist Prag – eine Zwischenstation. Hier lebt sie bei Freunden in der Buckova 47. Unendlich scheint ihr die Zeit, in der sie auf eine Einreisegenehmigung nach Deutschland wartet. Im Döbelner „Amt für Umsiedlung“ ist man kooperativ. Schon im Dezember 1946 hatte man ihr eine Aufenthaltsgenehmigung geschickt. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass ohne die Genehmigung der russischen Besatzungsmacht keine Einreise möglich ist. Am 04.06.1947 schickt das „Amt für Umsiedlung“ in Döbeln sogar eine russische Übersetzung der Aufenthaltserlaubnis. Man hofft, dass Ruth Glasberg so schneller die russische Genehmigung erhält. An den Briefen ihrer Tante aus Berlin merkt Ruth, dass diese langsam die Hoffnung verlässt, dass sie sich jemals wiedersehen. Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich zunehmend. Ruth schreibt ihr am 15.03.1947 aus Prag: „Liebe Tante Marie, Du darfst nicht die Hoffnung verlieren, ich komme zu dir. Sobald ich die Genehmigung in der Hand habe, nehme ich den ersten Zug, der geht, das versichere ich dir […] Hat uns beide Hitler nicht vernichten können, haben wir so lange durchgehalten, dann müssen wir weitergehen und kämpfen, das sind wir allen unseren Lieben schuldig, die nicht zurückkehren durften.“ Aus Prag schreibt eine kämpferische junge Frau, die auch jene zur Rechenschaft ziehen will, die am Tod ihrer Verwandten mitschuldig sind. „Die Menschen brauchen nicht zu glauben, daß alles ungestraft vorübergeht.“
Doch vorerst kommt alles ganz anders. Ruth Glasberg erkrankt in Prag lebensbedrohlich an Diphterie. Bewusstlos wird sie in ein Prager Krankenhaus eingeliefert. Sechs Wochen verbringt sie hier, Wochen in denen die Ärzte um das Leben ihrer Patientin bangen. Kaum genesen, erkrankt sie erneut. Diesmal leidet sie unter einer Nervenentzündung. Sichtbar wird hier, dass das unstete Leben und die Ungewissheit der jungen Frau so zusetzten, dass sie körperlich zusammenbricht. Ruth Glasberg leidet besonders unter ihrer Hilflosigkeit. Kein Weg scheint für sie nach Deutschland zu führen, jahrelange Bemühungen haben zu keinem Ergebnis geführt. Gesundheitlich angeschlagen lebt sie immer noch in Prag - eine von vielen Durchgangsstationen, eine von vielen Übergangslösungen, die ihr Leben bisher bestimmten. Wenn sie ihrer Tante schreibt, dass sie sich nach einem kleinen Haus sehnt, in dem sie mit ihr leben kann, wird auch die große Sehnsucht nach Ankunft, nach einer verlässlichen Heimat deutlich. Jahrelang war Ruth Glasberg auf der Flucht, lebte im Gefühl, dass das eigentliche Leben später beginnt. Nun kann sie nicht mehr, will sie nicht mehr. Am 08.05.1948 schreibt sie aus Prag: „Jetzt ist es Sonnabend Abend, hier umher lachen die Leute in den anderen Wohnungen, sind froh und heiter, ich sitze hier und schreibe und weine.“ Ruth Glasberg hat in dieser Zeit große Sorgen. Ihre Aufenthaltsgenehmigung für die Tschechoslowakische Republik läuft ab und soll nicht verlängert werden. Sie weiß, dass sie Papiere für die Rückreise nach Schweden nicht so schnell besorgen kann, fürchtet sich vor einer Abschiebung nach Polen. Die Kinder der Familie Glasberg -alle in Deutschland geboren- hatten nie die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Automatisch war die polnische Staatsbürgerschaft ihrer Eltern auch auf sie übergegangen. Es ist eine besondere Tragik, dass nun Ruth Glasberg dieselbe Angst vor einer Abschiebung nach Polen hat, wie Ende der 30er Jahre ihre Brüder. „Liebe Tante Marie,“ schreibt sie, „haben wir wirklich so viel gesündigt, daß wir so viel leiden unter denen?“ Die Furcht vor einer Abschiebung ist so groß, dass sich Ruth Glasberg entscheidet, illegal nach Deutschland einzureisen. Am 11.09.1948 schreibt sie ihrer Tante aus einem Flüchtlingslager in Regensburg. Das Lager darf sie nicht verlassen. In Frankfurt a.M. stellt man ihr ein Visum aus und sie muss wieder nach Stockholm ausreisen. Der Krieg ist nun schon länger als drei Jahre vorbei und noch immer hat es Ruth Glasberg nicht geschafft, wieder nach Hause zu kommen. Für die Amerikaner in Regensburg ist sie eine von vielen DPs (displaced persons). Dieser Begriff umfasste alle Personen, die infolge des Zweiten Weltkrieges aus ihrer Heimat durch direkte oder indirekte Folgen des Krieges vertrieben, verschleppt oder geflohen waren. Von einer Einzelfallprüfung war man in den Flüchtlingslagern weit entfernt. Schon im August 1945 kam der Harrison-Bericht zu dem Schluss: "Wie die Dinge jetzt stehen, erscheint es, als ob wir die Juden so behandeln wie es die Nazis taten, wenn man davon absieht, daß wir sie nicht vernichten." Natürlich ist dieser Satz des Berichtes eine polemische Zuspitzung. Dennoch muss es für Ruth Glasberg eine schlimme Erfahrung gewesen sein, dass niemand die Tragödie ihrer Familie zu verstehen schien.
Am 10.10.1949 schreibt sie ihrer Tante wieder aus Stockholm. Über vier Monaten ist Ruth Glasberg schon wieder krank, leidet an den Spätfolgen der Diphterie und der Nervenentzündung und weiß nicht, wie sie das Krankenhaus und den Arzt bezahlen soll. Hilfe erhofft sie sich von der jüdischen Gemeinde in Stockholm. Hier erhält sie die Auskunft, wenn man „krank und arm ist und außerdem Ausländer, da solle man sterben“. Ruth Glasberg kommentiert: „Daran bin ich gewöhnt, solche Sachen zu hören, nachdem ich 10 Jahre so lebe.“
Als die Alliierten 1949 die Verwaltungshoheit auf die deutschen Behörden übertragen, wird die Einreise nach Deutschland leichter. Ruth Glasberg schafft jetzt das, was sie jahrelang vergeblich versucht hatte. Der Stadtrat zu Döbeln hat ihr am 08.03.1950 eine vierwöchige Aufenthaltsgenehmigung zur Klärung ihrer Familienangelegenheiten ausgestellt. Sofort macht sie sich auf den Weg, reist nach Deutschland, besucht zuerst ihre Tante Marie Glasberg in Berlin. Mehrfach reist sie dann von hier aus nach Döbeln. Sie sieht ihre Geburtsstadt distanziert, nicht mehr als Ort einer glücklichen Kindheit, sondern als Ausgangspunkt für ihr Unglück. Über die Menschen, die hier Zeugen antisemitischer Ausschreitungen wurden, spricht sie differenziert. Mit großer Zuneigung erinnert sie sich an die Familie Weidler, die sich auch in finsterster NS-Zeit loyal gegenüber den Glasbergs verhielt. Sie hatte in dieser Zeit Teile des Eigentums der Familie verwaltet, von ihr erhält Ruth Glasberg die Fotosammlung der Familie zurück. Für die junge Frau ist dies ein Schatz. Es sind Zeugnisse ihrer Vergangenheit, ihrer Kindheit und Jugend, von der ihr niemand mehr erzählen kann. Auch ihren Lehrer Curt Finsterbusch trifft sie nach dem Krieg wieder. Als sie mit ihm spricht, merkt sie, wie er sich unsicher umschaut. Noch heute ist sie erschüttert darüber, wie tief die Stigmatisierung der jüdischen Bürger ins Unterbewusstsein der Menschen eingedrungen ist. Viele Döbelner erkennen Ruth Glasberg wieder, als sie in diesen Tagen durch die Stadt geht, viele wissen von dem, was ihr widerfuhr. Nur ein einziger spricht sie daraufhin an, äußert Bedauern und Mitgefühl, die anderen schweigen, sie schauen weg, wenn sie der jungen Frau begegnen. Ruth Glasberg hält, das sagt sie ausdrücklich, nichts von einer Kollektivschuld der Deutschen, dennoch war es gerade die Mauer des Schweigens, die Sprachlosigkeit der Döbelner, die sie nach dem Krieg erschütterte.
In Döbeln begegnet Ruth Glasberg aber nicht nur die Vergangenheit. Sie schreibt am 27.07.1950 einen Brief an ihre Tante nach Berlin und erklärt, warum sie diesmal so lange in Döbeln geblieben ist und warum sie nicht wie geplant am 20.08.1950 wieder nach Schweden zurückkehren wird. Ruth Glasberg schreibt, dass sie in Döbeln einen Arzt getroffen habe, den sie heiraten will. Sie kündigt einen ersten gemeinsamen Besuch in Berlin an und trägt der Tante auf, sie möge „die roten Schuhe zum Schuhmacher“ geben, weil sie sonst nichts anzuziehen hätte. Die Hochzeit mit Joachim Grasshoff findet am 08.09.1950 statt.
Das junge Ehepaar verlässt gemeinsam Deutschland und baut sich in Schweden eine Existenz auf. Drei Jahre später wird Tochter Monica geboren. Das Leben Ruth Grasshoffs findet den lang ersehnten Halt, ihr Leben versinkt nicht in Verzweiflung und Trauer, sondern zeigt, dass ein Menschen alle Widerstände überwinden kann, wenn er an sich und seine Zukunft glaubt.
(1) Wildt, Michael: Die Judenpolitik des SD 1935 bis 1938: Eine Dokumentation. Institut für Zeitgeschichte, München 1995, S. 197
(2) Gedächtnisprotokoll zum Gespräch mit Ruth Grasshoff am 23.03.1999 in Döbelnhttp://de.wikipedia.org/wiki/Leonore_Goldschmid
(3) Alle -auch nachfolgend- zitierte Briefe stammen aus dem Nachlass von Frau Ruth Grasshoff.
(4) Brenner, S. 18. (Earl G. Harrison war ehemaliger US-Kommissar für Einwanderung und reiste im direkten Auftrag des US-Präsidenten Truman. Vorausgegangen waren u.a. offene antisemitische Äußerungen höherer Offiziere.)
Der Artikel entstand auf der Basis der „Besonderen Lernleistung“ von Sebastian Höhme im Schuljahr 2010/11.
Sebastian Höhme
"Traditions- und Förderverein Lessing-Gymnasium Döbeln" e.V.
Mitgliederinformation Nr. 40
Mai 2011